„Stillstand“ ist ein Dauerbrenner der österreichischen Politikberichterstattung. Synonym für die Politik der Regierung und die Regierungsparteien, den Föderalismus (die Landeshauptleute), Schulpolitik, Verwaltungs- wie Steuerreformbestrebungen, im Grunde das politische System des Landes. Schaut man über den Tellerrand muss man erkennen, dass der politische Stillstand nicht auf Österreich beschränkt ist.
Die Demokratien und ihre Vertreter haben weltweit aufgehört die Gesellschaft zu gestalten. Vorbei die Zeit der politischen Bewegungen. Der Stillstand ist die politische Normalität des 21. Jahrhunderts.
Ein Blick zurück zeigt, wie sehr die Politik an Bedeutung verloren hat und mit ihr die Demokratie, die den BürgerInnen die Möglichkeit zur Gestaltung des eigenen und des Schicksals des Staates geben sollte.
Ein Blick zurück
Die Krise der 30er
Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre als Beispiel: Die Situation von damals erinnert zum Teil stark an die Gegenwart – vom Kollaps des Finanzsystems und der folgenden Massenarbeitslosigkeit, über ungenügende Regulierungen der Finanzmärkte, bis zu niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen und ungeregelten Arbeitszeiten. Auch waren die Jahre davor von wirtschaftsliberaler Politik und Deregulierung geprägt, die Vermögensverteilung war in einer ähnlichen Schieflage wie heute: Während sich der Reichtum bei einem kleinen Teil der Bevölkerung konzentrierte, finanzierte der Großteil der Amerikaner seinen Konsum durch Verschuldung.
1933 wurde schließlich der progressive Demokrat Franklin D. Roosevelt zum Präsidenten der USA gewählt. Er reagierte mit einer weitreichenden Interventionspolitik, die als „New Deal“ in die Geschichte eingehen sollte, auf die Krise. Der Staat griff massiv in die Wirtschaft ein, errichtete ein Regime strengerer Regeln für die Wall Street und die Banken, regulierte Löhne und Arbeitsbedingungen, schuf Sozialversicherungen und andere soziale Einrichtungen. Der „New Deal“ hat wahrscheinlich das amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gerettet und den Grundstein des modernen amerikanischen Sozialstaates (und damit einer relativ stabilen Demokratie) gelegt.
Auch 2008 begann die Krise mit der Verschuldung der amerikanischen Mittelschicht. Uneinbringbare Immobilienkredite in Kombination mit fehlenden Regeln und inkompetenter Aufsicht über die Finanzmärkte, hatten einen Crash des Finanzsystems zur Folge. Wie im Jahrhundert davor verzögerte das desolate Bankwesen die Erholung. Wieder waren die Regulierungen nicht ausreichend. Dabei war noch 1933 ein Trennbankensystem in den USA eingeführt worden, um zukünftige Pleiten von für die Realwirtschaft wichtigen Geschäftsbanken zu verhindern, indem diese von den (als riskanter geltenden) Investmentbanken getrennt wurden. Ab den 1970ern, besonders aber während der neoliberal geprägten Präsidentschaft Ronald Reagans, wurde mit der erneuten Deregulation des Finanzsystems begonnen. Das Trennbankensystem wurde schließlich 1999 abgeschafft. Der „New Deal“ war längst wieder out, die Marktgläubigkeit hatte einen neuen Höhepunkt erreicht. Neun Jahre später überrollte die erste Weltwirtschaftskrise seit fast 80 Jahren die Welt.
Roosevelts Vorgänger, Herbert Hoover, setzte auf einen ausgeglichenen Staatshaushalt zur Bekämpfung der Krise. Sein Vorgehen erwies sich als nutzlos, das Land rutschte immer tiefer in die Depression. Trotzdem ist die europäische Union heute, ca. acht Jahrzehnte später, auf demselben Irrweg. Anstatt der Krise wirksame Maßnahmen entgegenzusetzen, erfüllt die Politik unter Schlagwörtern wie „Schuldenabbau“ oder „Strukturreformen“ den wirtschaftlichen Eliten lange gehegte Träume. Sozialleistungen werden gekürzt, arbeitsrechtliche Bestimmungen aufgeweicht, Technokraten aus der Wirtschaft und dem Bankensystem in politische Führungspositionen gehievt. Die Sparpolitik treibt die Wirtschaft aber immer offensichtlicher in die Rezession, die Sparpakete kommen mit den durch sie verursachten Steuerausfällen nicht mit.
Was hat sich also geändert, wie erklärt man das zögerliche und mutlose Vorgehen der Politik, im Angesicht der augenscheinlichen Notwendigkeit eines anderen Vorgehens? 1933, vier Jahre nach Ausbruch der Krise, startete mit dem „New Deal“ ein milliardenschweres Krisenbekämpfungsprogramm, in diametraler Abkehr vom traditionell eher fiskalkonservativen amerikanischen Verständnis des Staatswesens.
In den 1930ern waren aber die sozialen Auswirkungen der Krise deutlich verheerender als sie es in der aktuellen Krise sind. Die herrschende amerikanische Oberschicht musste wohl eine gewalttätige Revolte als mögliches Szenario fürchten, sollte sich die Situation weiter verschlechtern. Die Angst vor sozialistischen Revolutionen hat wahrscheinlich einiges zu einer sozial verträglichen Ausgestaltung des Kapitalismus beigetragen. Am Wichtigsten ist aber, dass die Handlungsspielräume der Politik, noch nicht im selben Maß durch ökonomische Sachzwänge an allen Ecken und Enden eingeschränkt waren. Die Politik setzte ihre Führungsrolle gegenüber der Wirtschaft durch, die Demokratie funktionierte.
Die große Krise des vorherigen Jahrhunderts war Ausgangspunkt einer neuen Ökonomie, die einer breiteren Masse den Zugang zum Wohlstand ermöglichte und dem europäischen Sozialstaatsmodel zu seiner Blüte verhalf. Der Konsens hinter dieser Art der Gestaltung des Wirtschaftssystems verschwand mit dem Ende der Sowjetunion von der Bildfläche. Schon die bloße Existenz eines alternativen Systems hatte also, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, tiefgreifende Wirkung auf den Kapitalismus, ganz besonders in Europa.
Demokratie vs. Neoliberalismus
Reichtum ist Macht. Man wählt die Repräsentanten der Macht wenn man wählen geht, ändert aber nichts an den tatsächlichen Machtverhältnissen. Das widerspricht nicht nur der ideellen Konzeption von Volksherrschaft, sondern hat auch zur Entstehung eines neuen Adels geführt. Geld wird gleich dem blauen Blut von Generation zu Generation weitergegeben. Mit dem Geld der Einfluss auf die Politik. Dass die Politik, im theoretischen Ideal einer Demokratie also das Volk als Souverän, den rechtlichen Rahmen vorgibt, in dem sich die Wirtschaft bewegt und damit auch bestimmt, wie die Erträge verteilt werden, ist wohl schon immer eine Illusion gewesen. Auch die Demokratie hat am Grundsätzlichen, dass es Herrschende gibt und Beherrschte, nichts geändert. Auch wenn heute in Mitteleuropa ein fortschrittliches System der Rechtsstaatlichkeit existiert, gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, finanzielle Macht in politische umzumünzen.
- Da wären etwa die Macht zur Meinungsbildung über Medieneigentum, die direkte Einflussnahme über Partei- und Wahlkampfspenden, oder sogar Parteieigentum, man denke an Frank Stronach.
- Noch wichtiger ist wahrscheinlich die Schaffung der erwähnten Sachzwänge. Die neoklassische Ökonomie, die seit den 1970ern die sozialen Fortschritte der Jahrzehnte davor Schritt für Schritt zurückbaut, lässt der Politik einen immer kleiner werdenden Raum für aktives Handeln.
- Beinahe jede Politik, die auf eine Verkleinerung der Ungleichheit von Einkommens- oder Vermögensverteilung abzielt, führt zu negativen wirtschaftlichen Effekten. Mindestlöhne, Vermögenssteuern, hohe Sozialleistungen für Arbeitslose, hohe Standards im Arbeitsrecht. Im internationalen Konkurrenzkampf um Investitionen, muss vor allem ein attraktiver Standort gewahrt werden.
Der Einfluss der Kräfte, die von diesem System überproportional profitieren, folgt also aus ihrer finanziellen Macht, ist heute aber durch ein komplexes System aus faktischen und theoretischen Zwängen abgesichert.
Besorgniserregend ist auch, dass nicht natürliche Personen den größten Einfluss auf die Politik haben, sondern juristische Personen, Unternehmen, Konzerne, Banken. Während Menschen in den meisten Fällen verschiedenste Motivationen für ihr Tun haben, existieren diese aus einem einzigen Grund: dem Profit. Der Multimillionär und ehemalige Bürgermeister von New York, Rudy Giuliani, erklärte vor kurzem als Rechtsexperte im amerikanischen TV-Sender Fox News die Steuerflucht amerikanischer Firmen, indem er auf deren rechtliche Verpflichtung gegenüber ihren Aktionären hinwies. Unternehmen seien demnach ihren Aktionären treuhändisch verpflichtet, solche Schlupflöcher zu nutzen. Die Möglichkeit der Steuerflucht nicht zu ergreifen, wäre als Untreue ein strafbares Verhalten der Manager. Wenn es (gerade noch) legal ist und den Profit steigert, muss es gemacht werden.
Die relevanten Aktionäre sind oft wieder juristische Personen, die ihrerseits eine Verantwortung gegenüber ihren Aktionären haben und so weiter. So sind nicht Menschen, sondern juristische Konstrukte, deren einziger Sinn und Zweck die Generierung von Profit ist, die Gruppe mit dem größten Einfluss auf die Politik. Weder werden menschliche Schicksale berücksichtigt, noch gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge oder Auswirkungen auf die Umwelt evaluiert. Der Profit muss in der Regel nicht nachhaltig sein, sondern nur zur schnellen Bereicherung der finanziell Beteiligten führen.
Moral?
(Eine „Kommunikationsguerrila-Aktion“ der Aktivistengruppe „The Yes Men“ macht das moralische Dilemma anschaulich: Die Firma Dow Chemical ist Eigentümer des Chemieunternehmens Union Carbide, das 1984 in Bophal, Indien, einen schwerwiegenden Unfall zu verantworten hatte. Dabei kamen mehr als 3000 Menschen um, etwa 120.000 wurden verletzt. Das Gebiet ist bis heute schwer kontaminiert und gesundheitsschädlich. Ein Aktivist der „Yes Men“ gab sich zum 20. Jahrestag des Desasters, live in einer Sendung der BBC, als Sprecher des Mutterunternehmens Dow aus und kündigte an, der Konzern werde volle Kompensation der Geschädigten und die Beseitigung der Schäden der Katastrophe übernehmen. Als das Ganze 23 Minuten später als Falschmeldung entlarvt wurde, war der Wert von Dow schon um zwei Milliarden Dollar gefallen. Der Markt hatte gesprochen.)
Die Annahme, moralisches Handeln wäre im Wirtschaftsleben so gut wie unmöglich, dient den handelnden Personen zugleich als Schutzbehauptung. Persönliche Schuld gibt es nicht, wenn der Markt das Handeln bestimmt. Die gleiche Logik tragen die Akteure des Marktes in die Politik. Die Gesetze des Marktes bestimmen, welche Gesetze der Staat macht. Wenn Unternehmen in einem Land nicht der größtmögliche Profit ermöglicht wird, wechseln sie eben das Land. Nicht weil sie das wollen, sondern weil sie es müssen, ihre Aktionäre haben schließlich nicht aus Wohltätigkeit investiert. Für die Politik sind neoliberale Positionen leicht zu argumentieren: „Wir wollen nicht kürzen, wir wollen unsere Standards nicht senken, wir müssen es tun!“ Die Wettbewerbsfähigkeit gebietet es. Natürlich ist der Standortwechsel für produzierende Unternehmen in der Realität nicht so leicht, wie manchmal von Seiten der Wirtschaft behauptet wird, oft genug handelt es sich um leere Drohungen, die von der Politik übernommen werden.
Die Herrschaft der Sachzwänge hat die Volksherrschaft abgeschafft. Dass dieses System keine Selbstregulierung im Hinblick auf nachhaltiges Handeln vorsieht, ist klar. Dass schneller Profit nicht unbedingt im Interesse der Mehrheitsbevölkerung ist, hat nicht zuletzt die Krise von 2008 deutlich gemacht.
Ungezügelter wirtschaftlicher Liberalismus tut der Wirtschaft nicht gut, was nicht bedeuten soll, dass es nicht genügend Profiteure solcher Entwicklungen gibt, die ihre Vormachtstellung und ihr Vermögen dank Bankencrash und Staatsschuldenkrise weiter ausgebaut haben.
Wirtschaftsliberale Krisenanfälligkeit
Es sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass Wirtschaftskrisen die ständigen Begleiter des Liberalismus des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts waren und diese Krisen stets zu Hunger und Elend geführt haben. Die neoliberale Ideologie, die mit der neoklassischen Theorie quasi-wissenschaftlich untermauert wird, kreiert extreme Ungleichgewichte und extreme Ungerechtigkeit. Und selbst die größten Profiteure dieses Systems, schaffen sich keine echte Sicherheit. Auf der anderen Seite wird sogar mit dem Niedergang von Staaten noch Geld gemacht. Dass mit genügend Kapital ganze Volkswirtschaften zu Fall gebracht werden können, sollte als weiteres Argument gegen die steigende Kapitalkonzentration dienen. Heute ist das Ungleichgewicht der Vermögensverteilung in den USA größer als vor dem schwarzen Freitag 1929. Wenn ein großer Teil der Bevölkerung verschuldet ist, Löhne stagnieren und der Konsum wieder über Kredite finanziert wird von denen zumindest anzunehmen ist, dass sie eine hohe Ausfallsquote haben, ist der nächste Crash vorprogrammiert. Der Ökonom Thomas Piketty hat in seinem vielbeachteten Buch „Capital in the 21th Century“ nachgewiesen, dass immer mehr Akkumulation von Kapital bei einigen Wenigen, der Regelfall unseres gegenwärtigen Systems ist.
Für linke Politik gibt es also eigentlich genug zu tun. Leider hat sich die Sozialdemokratie fast überall den angesprochenen Sachzwängen untergeordnet. Sie bleibt viel zu oft nur ein Verwalter, der den Übergang vom Sozialstaat zum Nachtwächter-Staat so angenehm und reibungslos wie möglich über die Bühne bringen will. Der Stillstand aller progressiven politischen Bemühungen, ist dem Neoliberalismus inhärent. Mit fortschreitender Dominanz macht er es immer schwerer, etwas daran zu ändern.
Politischer Internationalismus vs. Wirtschaftliche Globalisierung
Mögliche Chancen das Ruder herumzureißen und den Kapitalismus in einen effektiven politischen, ökologischen und sozialen Rahmen zu integrieren, bestehen heute in internationaler politischer Zusammenarbeit. Eine globale Vermögenssteuer, wie Piketty sie vorschlägt, macht die marktlogische Reaktion die normalerweise einer Steuer auf Vermögen gegenübergestellt wird, die Kapitalflucht, unmöglich. Wenn kein Steuerwettbewerb und kein Niedriglohnwettbewerb mehr betrieben werden würde, sondern global zwingende Mindeststandards festgelegt wären, könnte auch die zynische Logik des Lohndumpings überwunden werden. Regulierungen des globalisierten Marktes brauchen globale Strategien und damit auch eine weltweit koordinierte linke Politik. Dafür sollte es einen institutionellen Rahmen geben. Eine Organisation, in der die Konzepte zur koordinierten Eindämmung des neoliberalen Dogmas erarbeitet werden, sollte allen marktkritischen Kräften, nicht nur den Parteien, als Plattform dienen, die Pluralität linker Politik akzeptieren und ein gemeinsames Vorgehen auf der Grundlage der relativen Verbesserung der Situation suchen. Dafür müssten die nationalen Parteien bereit sein, dort wo es sinnvoll ist, innenpolitische Agenden internationalen Strategien unterzuordnen. Mit dem heute üblichen, kurzsichtigen Agieren der Sozialdemokraten, die scheinbar nur mehr in Zeiträumen von einer Wahl zur nächsten denken können, wird ein notwendiges globales Projekt, nicht umzusetzen sein.
Seit Beginn dieses Jahrzehntes, gibt es auch in Europa und den USA wieder wachsende soziale Proteste und daraus hervorgehende Bewegungen, beispielsweise die Indignados in Spanien oder die Occupy-Bewegung. Anstatt diese neue kapitalismuskritische Zivilgesellschaft in die Parteien einzubinden, folgt die europäische Sozialdemokratie ohne Gegenwehr der Spardoktrin der neoliberalen Krisenbekämpfungsprogramme. Diese Programme richten sich absurderweise nicht an die Mechanismen, die die Krise verursacht haben, sondern zwingen die Staaten zum Sparen. Das trifft wiederum überwiegend jene sozialstaatlichen Einrichtungen, die verhindert haben, dass der massive Anstieg von Arbeitslosigkeit im Gefolge der Krise zur Verarmung der betroffenen Bevölkerung und damit zum Totaleinbruch des Konsums geführt hätte. Was wiederum dazu führt, dass die Zivilgesellschaft sich immer mehr von den etablierten politischen Parteien abwendet.
…und Österreich?
In Österreich lehnte die SPÖ eine von der Basis nach der Nationalratswahl 2013 geforderte Urabstimmung über den Koalitionsvertrag mit der ÖVP ab. Versprechen, die der Partei während des Wahlkampfes ein soziales Gesicht verleihen und sie vom konservativen Koalitionspartner abheben sollten, wie etwa Vermögenssteuern oder Mindestlohn, waren in diesem Vertrag nicht mehr vorgesehen. Der Preis für diese, allem Anschein nach karriere- und machtpolitische Entscheidung, ist der Verlust der letzten Glaubwürdigkeit und ein Absturz in den aktuellen Umfragen. Der Weg in die Bedeutungslosigkeit der einstigen Großpartei lässt sich auch am massiven Mitgliederschwund nachvollziehen. Im Proporzsystem hatte das Parteibuch noch große Bedeutung für das gesellschaftliche und berufliche Fortkommen in Österreich. Der Wertverlust der Parteimitgliedschaft, der mit dem Ende dieses Systems eingetreten ist, hätte mit dem Ausbau demokratischer Rechte zumindest teilweise kompensiert werden können. Die Vermutung liegt nahe, die SPÖ müsse erst ihren absoluten Tiefpunkt erreichen, bevor die Parteielite bereit ist, Macht an die Basis abzugeben.
Dass es auch anders gehen könnte, zeigt die partizipative Politik der südamerikanischen Linken. In Brasilien z.B., beschloss die Arbeiterpartei PT ein Gesetz, dass die Bewohner von Städten bei der Erstellung der städtischen Budgets einbezieht und ihnen beim Beschluss Stimmrechte gibt. Auf diese Weise können einerseits soziale Initiativen und Projekte finanziell berücksichtigt werden, andererseits konnten Teile der Zivilgesellschaft nachhaltig an die Partei gebunden werden. Institutionalisierte Partizipation verankert eine Partei in der Bevölkerung, bringt soziale Anliegen und Expertise der Betroffenen hinein und stellt sicher, dass der soziale und ideologische Leitgedanke nicht so leicht aus den Augen verloren werden kann (wie es z.B. in den nordatlantischen Demokratien unter Stichwörtern wie „new labour“ geschehen ist). Außerdem erhöht die breite Verteilung von Macht innerhalb einer Partei ihre Resistenz gegen Korruption.
Perspektiven
Vier Jahrzehnte Primat der neoklassischen Ökonomie haben eine neue politische Realität geschaffen, die von niemandem ignoriert werden kann. Konzepte auf nationaler Ebene sind auch für große Volkswirtschaften nur mehr in wenigen Fällen zielführend.
Ohne ideologischen Entwurf, ohne Zukunftsvision und ohne große Ziele ist die Sozialdemokratie nur eine weitere Wegbereiterin des neoliberalen Vormarsches, in Richtung absoluter Dominanz über die Politik. Theoretisch ist ein demokratischer Wandel gegen alle Widerstände immer noch möglich.
Bei der Umsetzung einer sozialeren Gesellschaft müssen die Lehren aus der Geschichte gezogen werden. Ein autoritäres sozialistisches System ist nicht erstrebenswert. Eine klassenlose Gesellschaft kann nicht über die unbeschränkte Herrschaft einer kleinen politischen Elite erreicht werden. Machtkonzentration bei wenigen ist wie die steigende Konzentration von Kapital als Rückschritt zu betrachten. Der Weg zu einer sozialeren und liberaleren (allgemeiner Wohlstand und das Bestehen von Perspektiven senken die Notwendigkeit kriminellen Verhaltens und damit die Notwendigkeit staatlicher Autorität) Gesellschaft, führt über eine regulierte Marktwirtschaft, die Zähmung des kapitalistischen Systems, das vom reinen Selbstzweck befreit und in den Dienst möglichst vieler Menschen gestellt werden soll. Dies wird mit der Reduktion des Einflusses der Wirtschaft auf die Politik auf ein vernünftiges Maß einhergehen müssen, um den Prozess offen zu halten.
Konkrete Maßnahmen, die man in diesem Kontext diskutieren könnte sind z.B.: Globale (oder zumindest EU-weite) Mindeststeuersätze bei der Unternehmensbesteuerung, Steuern auf Vermögen und Finanztransaktionen, progressive Kapitalertragssteuern, die Besteuerung von Unternehmensgewinnen und die Vergabe öffentlicher Aufträge nach sozialen und ökologischen Gesichtspunkten; verpflichtende internationale Mindeststandards für die Produktion von Waren und den Abbau von Ressourcen; Investments in den globalen Aus- und Aufbau von Sozial- und Bildungssystemen, Infrastruktur und Forschung; transparente öffentliche Wahlkampf- und Parteienfinanzierung, die höhenmäßige Begrenzung von Wahlkampfausgaben und privaten Parteispenden.
In Österreich wäre die Durchsetzung der Steuerreform zur Entlastung der Arbeitnehmer und ihre Gegenfinanzierung durch Vermögenssteuern der erste Schritt aus dem Stillstand. Kann die SPÖ zeigen, dass sie Ziele hat die im Interesse der Masse der arbeitenden Bevölkerung liegen und dass sie bereit ist, diese Ziele über die eigenen machtpolitischen Ambitionen zu stellen, gewinnt sie Glaubwürdigkeit und Schwung. Von der politischen Realität Enttäuschte stellen inzwischen wohl die größte potenzielle Wählergruppe dar. In diesem Umfeld kann jede Bewegung, jede Aktion die ehrliche Veränderung signalisiert, eine Mobilisierung zur Folge haben. Zuletzt konnte man das am Ein- und Aufstieg der NEOS beobachten.
Beteiligung der Öffentlichkeit und eine neue, internationale Perspektive auf die Möglichkeiten zur Gestaltung durch sozialdemokratische Politik, haben das Potenzial, die demokratische Linke aus ihrer Identitätskrise zu holen. Die Zusammenarbeit von Parteien mit marktkritischen Kräften weltweit und im lokalen Umfeld muss intensiviert werden.
Wenn Menschen die sich gegen Ungerechtigkeit engagieren wieder Platz in den Parteien finden, könnte die europäische Sozialdemokratie erneut zur politischen Bewegung werden.
Sebastian Grill